Pressespiegel

Lübecker Nachrichten | Mittwoch, 27.01.2016

Der Spielsucht verfallener Künstler
Der Nachlass von Theodor Fürchtegott Kirchner liegt in digitalisierter Form vor

[von Jürgen Feldhoff]

Lübeck. Theodor Fürchtegott Kirchner (1823-1903) war über Jahrzehnte hinweg ein enger Freund von Johannes Brahms. Der Nachlass des Dirigenten, Komponisten und Organisten befindet sich in der Sammlung des Brahms-Institutes an der Musikhochschule Lübeck. Jetzt ist der Nachlass - 8641 Blätter - komplett digitalisiert worden und steht so ab heute der Wissenschaft zur Verfügung.

Diese Aufnahme des Kirchner- Nachlasses in die digitale Sammlung des Institutes lässt die Gesamtzahl der erfassten Fotografien, Autographe, Briefe und Stichvorlagen auf 41624 steigen. »Der Kirchner-Nachlass hat uns ein entscheidendes Stück weitergebracht in unserem Digitalisierungsprojekt«, sagt Institutsleiter Wolfgang Sandberger. »Die gesamten Dokumente sind in hervorragender Qualität gescannt worden und deshalb auch uneingeschränkt wissenschaftlich nutzbar.« Für das Brahms-Institut ergibt sich daraus auch der große Vorteil, dass die empfindlichen Autographen und Manuskripte nicht mehr so oft aus dem Tresor genommen werden müssen, um sie Wissenschaftlern zugänglich zu machen. Sandberger: »Papier und Tinte sind lichtempfindlich, je weniger sie Licht ausgesetzt werden, desto besser bleiben sie erhalten.«

Das Land Schleswig-Holstein hat die Digitalisierung des Kirchner-Nachlasses mit 100000 Euro gefördert. Für den nächsten Teilabschnitt des Digitalisierungsprojektes liegt jedoch noch kein Förderungsbescheid vor. »Wir würden gern unseren Bestand an Materialien von Joseph Joachim digitalisieren, es handelt sich dabei um 5256 Blatt«, sagt Wolfgang Sandberger. »Diese Dokumente sind nicht nur aus musikwissenschaftlicher Sicht wertvoll, sie geben einen tiefen Einblick in jüdisches Leben im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.« Joseph Joachim, österreichisch-ungarischer Herkunft, galt als der bedeutendste Violin-Virtuose seiner Zeit. Obwohl er protestantisch getauft war, wurde er immer wieder Opfer antisemitischer Angriffe. Vor allem Wagnerianer und der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker erkoren sich Joseph Joachim und dessen Einfluss auf das deutsche Musikleben als Feindbild aus. Der preußische Hof jedoch hielt zu Joachim.

»Auch der Nachlass Theodor Kirchners ist kulturhistorisch interessant«, sagt Sandberger. »Als Komponist ist Kirchner fast vergessen, dabei hat Johannes Brahms dessen Klavierminiaturen ›das Zarteste vom Zarten‹ genannt. Wir haben in unserem Bestand mehr als 1000 dieser Miniaturen, von denen es die meisten verdient hätten, wieder einmal aufgeführt zu werden.« Theodor Fürchtegott Kirchners Leben war unstet. Musikalisch hochbegabt schlug er zunächst die Laufbahn als Organist ein, nachdem er zuvor an der von Felix Mendelssohn Bartholdy gegründeten Leipziger Musikhochschule die Matrikelnummer 1 erhalten hatte. Nach Stationen in Zürich und Meiningen kehrte er später nach Leipzig zurück, seinen Lebensabend verbrachte er in Hamburg, wo er 1903 - nach mehreren Schlaganfällen erblindet und gelähmt - schließlich starb.

»Kirchner war zeit seines Lebens in Geldnöten«, erzählt Sandberger. »Er war ein glühender Bewunderer Robert Schumanns und hatte mit dessen Witwe Clara sogar eine Liaison. Aber er pumpte jeden Menschen, den er kannte, an, um seine Spielsucht zu befriedigen, auch Clara. Sie war dann so erbost über sein Verhalten, dass sie Kirchner das ›Du‹ entzog und ihn als ›großen Lumpen‹ bezeichnete.«

Auch von Johannes Brahms erhielt Kirchner immer wieder finanzielle Hilfestellung. Im Jahre 1884 wurde für Kirchner eine Spendenaktion initiiert, an der sich unter anderem Edvard Grieg, Hans von Bülow sowie Carl Reinecke beteiligten. Der Erlös wurde angelegt und der Zins wurde Kirchner zum Lebensunterhalt zur Verfügung gestellt - der Spielsucht entkam der überaus produktive Komponist allerdings zeitlebens nicht.

Neben eigenen Kompositionen wirkte Theodor Kirchner auch als Arrangeur, so setzte er eine Vielzahl der Werke Schumanns und Brahms' für das Klavier. Brahms schätzte diese Bearbeitungen Kirchners außerordentlich. Außerdem schrieb er Arrangements zu Stücken von Ludwig van Beethoven, Edvard Grieg, Joseph Haydn, Franz Schubert und vielen anderen Komponisten.

Weltgrößte Privatsammlung

Das Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck wurde 1990 mit der Erwerbung der weltweit größten privaten Brahms-Sammlung gegründet. Das Professoren- Ehepaar Renate und Kurt Hofmann hatte diese Sammlung in jahrzehntelanger Arbeit zusammengetragen. Als sogenanntes „An-Institut“ ist das Brahms-Institut der Musikhochschule Lübeck angegliedert. Die Einrichtung steht seit 1999 unter der Leitung von Wolfgang Sandberger. 2002 zog das Institut in die Villa Brahms auf dem Jerusalemsberg in Lübeck. Nach dem Umzug in das klassizistische Landhaus hat sich das Institut weiter einem interessierten Publikum geöffnet mit Konzerten, Vorträgen und Ausstellungen.

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